ABBA – Arrival (1976)

 

Als ich begann, mich für die Musik zu interessieren, die aus dem Radio kam, stellte ich bald fest, daß die Schlager meiner Eltern nicht das waren, worum es in den Gesprächen auf dem Schulhof ging. Mit dem Kofferradio meines Vaters machte ich mich auf die Suche nach den aktuellen Hitparaden von Radio Luxemburg, HR3 und Bayern 3. Die Namen meiner Lieblingsbands wechselten, abhängig von ihrer Chart- und Fernsehpräsenz, ständig: The Rubettes, Smokie, Queen, ELO, Bee Gees. Nur eine Gruppe konnte sich beständig meiner Gunst erfreuen, vielleicht, weil nur sie damals permanent präsent war. Und das war ABBA. In den Jahrzehnten, die inzwischen vergangen sind, habe ich die frühe Begeisterung für alle anderen erst verleugnet, später mit kindlicher Naivität zu begründen versucht. Zu ABBA jedoch habe ich immer gestanden, egal, wie cool oder uncool das gerade war (zum Glück war es meistens zumindest nicht uncool). Und ich habe mich jedes Mal ehrlichen Herzens gefreut, wenn wieder einer ihrer Songs die Spitze der Charts erreichte. Die Tabellenführung meines damals bevorzugten Fußballclubs konnte ich weit weniger oft bejubeln.

 

Im Herbst 1976 brachte mir mein Vater aus der Kreisstadt eine Amiga-Single mit. Wenn in Talkshows oder albernen Fernsehsendungen Prominente nach der ersten Single ihres Lebens gefragt werden, habe ich manchmal den Verdacht, daß sie sich vorher irgendetwas besonders Beeindruckendes oder Schräges ausgedacht haben, nur um nicht mit „Yes Sir, I Can Boogie“ oder „Born To Be Alive“ zu langweilen. Da kann ich mit „Dancing Queen/Fernando“ ganz unbefangen umgehen. Fragen Sie ruhig!

Beide Songs kannte ich natürlich aus dem Radio. „Fernando“ hatte bereits im Frühjahr die Charts aufgerollt. Es hatte den Vorzug vor „Dancing Queen“, das dann im August nachzog, erhalten, weil ein stärkerer Kontrast zum letzten Hit „Mamma Mia“ beabsichtigt war. Dafür fehlte es dann auf „Arrival“ (im Oktober 1976 zeitgleich in 34 Ländern veröffentlicht). Nur in Australien und Neuseeland, klassischem ABBA-Territorium, war es enthalten (als viertes Stück der zweiten Seite). Die Amiga-Single war weltweit die erste, die diese beiden eigentlichen A-Seiten miteinander koppelte. Ungarn folgte 1977 (Pepita SPSK 70224), die Amerikaner im Rahmen der „Atlantic Oldies Series“ (!) 1979 (Atlantic OS-13203). Mir ging es damals aber ausschließlich um die Musik, und zwei Jahre später bekam meine ABBA-Begeisterung noch einmal einen mächtigen Schub. Nach den Sommerferien fuhr ich mit meiner Klasse ins Kino! Nein, wir gingen nicht ins Kino. Das hätte einen Fußmarsch von gut 15 Kilometern vorausgesetzt. Gezeigt wurde das bei der Australien-Tournee 1977 aufgezeichnete „ABBA – The Movie“, in der DDR einfach nur „ABBA“ benannt. Bis dahin hatte mich kein Film, kein Musikereignis derart aufgewühlt. Ich war 13 Jahre alt und fühlte mich durchaus berufen, zur Diskussion „Agnetha oder Frida“ beizutragen. Und natürlich hatte Erstere mein Herz im Sturm erobert, nicht nur wegen ihres ..., na, Sie wissen schon. Außerdem hießen bei uns im Dorf nur alte Bäuerinnen Frieda. Es hat viele Jahre gebraucht, um festzustellen, daß Anni-Frid, wie sie ja wirklich heißt, die weit interessantere Person war.

Erstaunlich ist, daß weder meine erste Single noch der Film in mir das dringende Bedürfnis entfachten, mehr von dieser Musik zu besitzen. Dabei weiß ich nur zu gut, was selbst der spontane Kauf musikalisch manchmal recht fragwürdiger Objekte bei mir für eine Kettenreaktion auslösen kann. Aber beim Thema ABBA blieb alles ruhig. Amiga veröffentlichte immerhin zwei Lizenz-LPs, fünf Singles und eine EP (Quartett-Single genannt). Ich erwarb keine einzige davon. Auch wäre ich nie auf die Idee gekommen, auf irgendeinem Flohmarkt 100.- Mark oder mehr für ein Original-Album auszugeben, geschweige denn im Intershop „richtiges“ Geld zu opfern. Für „Abacab“ von Genesis hingegen kratzte ich später 21,50.- DM in Form von Forumschecks zusammen! Zu meiner Ehrenrettung sei hier gesagt, daß ich diese Platte alsbald mit leichten Verlusten an jemanden weiterverkaufte, der damit offenbar mehr anfangen konnte, als ich.

 

Wie gesagt, meine Faszination für ABBA hat nie wirklich aufgehört, aber als ich begann, mich für Folk, Dylan, Pink Floyd und all die Sachen, die die „großen Jungs“ so hörten, zu interessieren, ließ sie doch beträchtlich nach. Und genau in dieser Zeit wurde ich zum Sammler. Gut möglich, daß ich dabei ABBA einfach vergessen hatte. Warum auch sollte man Geld für etwas ausgeben, das man eh täglich um sich hatte? Selbst in der DDR lief die Band im Radio rauf und runter, Amiga zeigte sich ungewöhnlich großzügig, der Film kam zeitnah in die Kinos und lief 1980 sogar im Fernsehen. Schon im November 1974 waren sie in der populären Samstagabendshow „Ein Kessel Buntes“ aufgetreten. Es gab „Waterloo“, „Honey Honey“, „So Long“ und als Zugabe noch eine kurze Passage von „Waterloo“ auf deutsch. Angekündigt wurden sie damals von einem Kind als: „Ein schwedisches Quartett – die Abbas“. Auch während des Auftritts lief ein Spruchband durchs Bild: „ABBA – Schweden“. Und das war der Punkt. Schweden war kein Mitglied der NATO und galt als neutral. Wenn also schon westliche Popmusik nicht zu vermeiden war, dann am besten aus Schweden, gutaussehend und unpolitisch. Diese Adjektive trafen im Prinzip auch auf die Staatskarossen der DDR-Führung zu. Die lieferte Volvo. Honecker im Mercedes war genauso undenkbar, wie Lindenberg im „Kessel Buntes“.

 

Im April 1974 hatte ABBA mit „Waterloo“ den internationalen Durchbruch geschafft. Bereits im Sommer 1973 war die schwedische Version von „Ring, Ring“ in Skandinavien und die englische in Österreich, Holland, Belgien und Südafrika ein absoluter Top-Hit (soviel zur endlos wiederholten Behauptung, kein Mensch hätte sie vor 1974 gekannt). Doch erst nach dem Sieg beim Eurovision Song Contest in Brighton wurden auch die bedeutenden Absatzmärkte aufmerksam. „Arrival“, das vierte Album, markierte dann endgültig die Ankunft (arrival) in der Liga der Superstars. Die Aufnahmen zogen sich ab August 1975 über ein Jahr hin, ständig unterbrochen von Video-Dreharbeiten sowie Promotion- und Fernsehauftritten. Umso erstaunlicher ist es, daß die Platte nicht wie ein großer Flickenteppich wirkt. Alles, was man noch heute mit ABBA in Verbindung bringt, also unverschämt eingängige Kompositionen, intelligente wie raffinierte Arrangements und ein hochmodern produzierter, unverkennbarer Gruppensound, bescherte ihnen schon damals eine Ausnahmestellung im Pop-Business. Ihre Musik ließ sich kaum einem speziellen Stil, erst recht nicht einer bestimmten Region zuordnen. Dieser universelle Charakter sorgte für große Akzeptanz in allen Teilen der Welt und bei breiten Käuferschichten. Wenn man „Fernando“ als Produkt der „Arrival“-Sessions hinzuzählt, warf die LP in England drei und in Deutschland sogar vier Nummer-1-Singles ab. Mit „Dancing Queen“ schaffte man auch im eher zurückhaltenden Amerika zum ersten und letzten Mal den Sprung an die Spitze der Charts. Die Kollaboration des Duos Benny Andersson und Björn Ulvaeus mit Manager Stig Anderson, der gelegentlich Ideen und Textentwürfe beisteuerte, erreichte einen ersten großen Höhepunkt. Sogar für Songs wie „My Love, My Life“ oder „That's Me“, gemessen an ihren Fähigkeiten lediglich Dutzendware, hätten andere Songschreiber wohl ihr letztes Hemd gegeben.

 

Textlich bewegte man sich auf vertrautem Terrain, unterhaltsam aber wenig aufregend. Erst spät erreichten zum Beispiel „The Winner Takes It All“, „When All Is Said And Done“ oder das verstörende „The Day Before You Came“ auch in dieser Hinsicht das Niveau der musikalischen Vorlagen.

Zu einer Zeit, als die Ehen der beiden Paare scheinbar noch intakt waren, verwirrte eine Nummer wie „Knowing Me, Knowing You“, in der es um das unweigerliche Ende einer Beziehung geht, die Hörerschaft. Dabei hatte Björn lediglich mit fiktiven Bildern gespielt. Aber nicht nur das erstmals auftauchende Thema, sondern auch der Charakter des Stückes heben es weit empor. Die Spannung ist mit Händen greifbar, entlädt sich explosionsartig im Refrain, nur um in der nächsten Strophe durch geflüsterte Wortwiederholungen eine weitere Dramatisierung zu erfahren. Die schon immer von einer mysteriösen Aura umgebene Anni-Frid war die Idealbesetzung für den Leadgesang. Klingt so der perfekte Pop-Song? Zumindest kommt er meiner Vorstellung davon sehr, sehr nahe. Wegen erwiesener Genialität gibt es hierfür bei der Bewertung der LP mindestens einen halben Bonuspunkt.

Übrigens kann ich mit dem Vorwurf, der ABBA-Platten häufig gemacht wurde und noch immer wird, sie seien zu perfekt, nichts anfangen. Wenn Perfektion nicht das Ziel eines Popmusikers wäre, müsste man doch sagen: „Augen auf bei der Berufswahl!“.

Money, Money, Money“, die zweite Singleauskopplung, hat in den vergangenen fast 40 Jahren eine unfreiwillige Karriere in der Filmbranche hingelegt. Wann immer eine Dokumentation von Bankenpleiten, Pleitebanken, Abzockern oder Immobilienhaien berichtet, kann man Wetten darauf abschließen, daß entweder die Registrierkasse von Pink Floyds „Money“ im Hintergrund klingelt, oder eben ABBAs Hit läuft. Wird das schon an den Hochschulen empfohlen? All ihr innovativen Filmemacher, zeigt doch bitte auch in dieser Hinsicht etwas mehr Phantasie!

 

Damit wären wir beim letzten Titel der Platte, „Arrival“, angelangt: einem Instrumentalstück! Für mich ist das ein nicht nachvollziehbarer, freiwilliger Verzicht auf einen Teil seiner Stärken, etwa so, als hätte sich der FC Bayern damals kurzerhand entschlossen, Gerd Müller und Karl-Heinz Rummenigge auf die Tribüne zu setzen, nur um zu sehen, was passiert. Natürlich hätten sie auch so irgendwie Fußball gespielt. Aber „irgendwie“ war schon zu jener Zeit nicht der Anspruch der Bayern und von ABBA erst recht nicht. Vier Jahre später mußte Mike Oldfield nur noch seine Gitarrenschablone über das Stück legen, um einen weiteren Hit zu basteln. Immerhin bewies er bei der Wahl des Motivs für das Single-Cover Humor, das einen ähnlichen Hubschrauber zeigt, wie den, der auf der ABBA-LP zu sehen ist.

 

Arrival“ ist eine richtig gute Pop-Platte, die sich das Luxusproblem leistet, daß neben den Über-Songs „Knowing Me, Knowing You“ und „Dancing Queen“ selbst großartige Stücke wie „Dum Dum Diddle“ oder „Tiger“ zweitklassig wirken. Das tragisch zu nennen, verbietet sich allein schon angesichts etwa zehn Millionen verkaufter Tonträger.

Aber diese beiden heute fast vergessenen Songs sind der Grund, warum man auch nach 1992 das Album noch braucht. Sie fehlen nämlich auf dem in jenem Jahr erschienenen „Gold: Greatest Hits“, das astronomische Stückzahlen verkaufte und alle „Arrival“-Hits plus „Fernando“ an Bord hatte. Außerdem könnte der Erwerb von „Gold“ in der Vinylausgabe eine nicht unbedingt billige Angelegenheit werden. Da damals noch das CD-Fieber grassierte, wurden erst gar keine nennenswerten Mengen gepreßt, was das Doppelalbum heute entsprechend rar macht.

Bei „Arrival“ gibt es dieses Problem nicht. Es haben genügend Exemplare überlebt, selbst in sehr gutem Zustand. In Deutschland erschien die LP auf Polydor (2344 058). Zeitgleich gab es auch eine Club-Ausgabe für Bertelsmann (Polydor 65 940 9), die mir vorliegt. Der einzige Unterschied dürfte der aufgedruckte Sticker sein, der die drei „Smash Hits“ auflistet. Der Sound, hauptsächlich ein Verdienst des treuen Klangtüftlers Michael B. Tretow, ist „schmissig“, alles sitzt am richtigen Platz. Die Raumdarstellung ist vorbildlich. Kleinere Probleme gibt es mit den Zischlauten. Dem Vergleich stellt sich eine 2011 erschienene Ausgabe aus Universals „Back To Black“-Reihe. Hübsch gemacht (wohl in Europa), unter Verwendung des originalen schwedischen Polar-Labels und der originalen Katalognummer (POLS 272), 180 Gramm mit beiliegendem Download-Coupon (für den Nachwuchs) und originalgetreuer Innenhülle (wieder mal ungefüttert). Bis dahin gibt es kaum Klagen. Der Sticker meint, daß es sich um remasterte Aufnahmen handelt. Wer dafür verantwortlich war, bleibt unerwähnt, wohl aus gutem Grund. Die Platte wirkt etwas leblos, der Sound, zumindest im Vergleich, breiig. Wenn das das Ergebnis der technischen Entwicklung der vergangenen 35 Jahre sein soll, bleibe ich lieber ein Ewiggestriger!

 

Musik: 7,5

Klang: 7,5 (Deutschland, 1976)

Klang: 6,5 (Europa, 2011)

 

Ronald Born, April 2014