Bob Dylan – Desire (1976)

 

Richtig bemerkt! Ja, ich schiebe die erste Besprechung eines Dylan-Albums schon eine ganze Weile vor mir her. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden! Und nun werde ich meinen selbst aufgestellten Regeln auch noch untreu. Es wird am Ende des Textes nämlich keine musikalische Bewertung geben! Ich kann das einfach nicht. Bob Dylans Werk hat für mich eben nicht nur eindimensional mit Musik zu tun. Zu vielen seiner Songs habe ich einen sehr persönlichen Bezug, sie begleiten mich schon den größten Teil meines Lebens. Würde ich mich zu einer musikalischen Einschätzung zwingen, könnte das nur im Kontext mit bereits bewerteten oder noch folgenden Platten anderer Künstler erfolgen. Aber ist dieses oder jenes Dylan-Album wirklich besser als, zum Beispiel, „Communiqué“? Oder ist „Elvis Is Back!“ besser als, sagen wir mal, „Another Side Of Bob Dylan“? Meine Voreingenommenheit in Sachen Dylan läßt hier einfach keine vernünftigen Entscheidungen zu. Und weil es an dieser Stelle sowieso nicht darum geht, unterschiedliche LPs gegeneinander abzuwägen, laufen die Dylan-Platten eben außer Konkurrenz. Bitte interpretieren Sie das aber nicht als „konkurrenzlos“! Das sind sie nämlich nicht. Jedenfalls nicht alle.

 

Seit ich begann, mich für Dylans Musik zu begeistern, war auch der Drang vorhanden, einfach alles davon zu besitzen. Nur hatte ich damals keinen blassen Schimmer, welche Dimensionen das zwangsläufig annehmen mußte. Irgendwie schon immer auch ein Sammler, stand „Desire“ fast 10 Jahre lang ganz oben auf meiner Wunschliste. Und je länger ich dieser Platte vergeblich nachjagte, umso mehr wurde sie für mich zum Heiligen Gral. 1988 war es dann endlich so weit. Aus derselben Quelle wie meine erste „Sounds Of Silence“, also von einem polnischen „Wanderer zwischen den Welten“, erhielt ich eine holländische Pressung mit dicker Innenhülle und Textblatt, ganz wie es sich gehört. Ich war glücklich!

 

14 Jahre früher war Bob Dylan das Maß aller Dinge und populärer denn je. Im Januar 1974 veröffentlichte er die LP „Planet Waves“, auf der er von The Band begleitet wurde, und die ihm die erste Nummer 1 in den amerikanischen LP-Charts bescherte. Schon die Ankündigung einer Tournee (nach sieben Jahren Abstinenz) versetzte ein ganzes Land in Aufruhr! Vom 3. Januar bis zum 14. Februar gab man 40 ausverkaufte wie umjubelte Konzerte in 21 Städten. Das daraus resultierende Live-Album „Before The Flood“ kletterte im Sommer auf Rang 3 der Charts. Auf den Tag genau ein Jahr nach „Planet Waves“ erschien das spartanische wie ungewohnt persönliche Meisterwerk „Blood On The Tracks“ und wurde zum nächsten Nummer-1-Album. Im Juni 1975 entschloß sich Columbia Records, „The Basement Tapes“ herauszubringen. Auf der Doppel-LP waren unter anderem 16 Stücke zu finden, die Dylan bei Sessions mit The Band in der zweiten Hälfte des Jahres 1967 aufgenommen hatte. Die meisten der Aufnahmen kursierten bereits auf illegalen Raubkopien, was dem Erfolg der etwas unausgegorenen Platte jedoch keinen Abbruch tat. Sie landete auf Platz 7 der US-Charts. Dylan hatte einen Lauf!

 

Schon kurz nach Erscheinen von „Blood On The Tracks“ schrieb er an neuen Songs („Abandoned Love“, „One More Cup Of Coffee“) und trug sich mit dem Gedanken, eine eigene Band zusammenzustellen. Im Frühjahr reiste er dann nach Frankreich, wo er unter anderem eine 1974 erschienene Autobiographie las („The Sixteenth Round“), in der der zu lebenslanger Haft verurteilte Ex-Boxer Rubin „Hurricane“ Carter sein Schicksal schilderte. Dylan war völlig fasziniert und besuchte nach seiner Rückkehr im Juni Carter im Staatsgefängnis von New Jersey. Etwa zu jener Zeit machte ihn sein alter Freund Roger McGuinn mit dem Psychologen und Theaterregisseur Jacques Levy bekannt. Für die Byrds hatten beide zusammen „Chestnut Mare“ geschrieben, das Anfang 1971 in England immerhin noch in die Top-20 rutschte. Dylan und Levy fanden schnell einen Draht zueinander (ein Doktor in Psychologie war sicherlich kein Nachteil) und schrieben in wenigen Wochen die meisten der Songs für „Desire“. Nun fragen Sie mich bitte nicht, wie man sich das vorstellen darf! Angeblich kam Dylan mit den Ideen, und Levy machte daraus die fertigen Texte. Meine Phantasie reicht jedoch nicht aus, um den Herren bei der Arbeit über die Schultern zu schauen. Auf jeden Fall kann man alle Texte als „typisch Dylan“ bezeichnen. Wie Levy es schaffte, sich in dessen Bilder- und Gedankenwelt hineinzuversetzen und auch noch alles, was er dort fand, in Prosa zu kleiden, wäre Thema von weitreichenderen Studien. Vielleicht könnte ja Robert Hunter etwas zur Aufklärung beitragen, dem 2009 für „Together Through Life“ ein ähnliches Kunststück gelang.

 

In meiner persönlichen Wahrnehmung ist „Desire“ das letzte „klassische“ Dylan-Album. Es enthält alles, was man mit ihm so landläufig in Verbindung bringt: großartige Songs, Kritik an herrschenden Mißständen, kaum zu entschlüsselnde Passagen, poetische Liebeserklärungen, emphatischen Gesang, Mundharmonika. Daß es anderen damit ähnlich geht, zeigt auch, daß es das letzte Werk ist, von dem ein Großteil der Stücke von Musikern unterschiedlichsten Formats bis heute gern und häufig gecovert wird. Und Sie werden mit Sicherheit mehr Leute finden, die Ihnen sämtliche Songs dieser Platte aufzählen können, als zum Beispiel von „Empire Burlesque“ oder auch „Modern Times“.

 

Am 26. Juni 1975 besuchte Dylan ein Club-Konzert der am Beginn ihrer Karriere stehenden Patti Smith. Er war begeistert von der Chemie, die zwischen den Musikern ihrer jungen Band herrschte und beschloß endgültig, seine eigene Truppe auf die Beine zu stellen. Wenig später versuchte die junge Geigerin Scarlet Rivera, eine Straße in New Yorks Lower East Side zu überqueren, als ein heruntergekommener grüner Kombi anhielt, und die Beifahrerin sie durch das heruntergelassene Seitenfenster fragte, ob sie das Instrument in ihrem Koffer auch wirklich spielen könne. Der Fahrer stellte sich als „Danny aus Ungarn“ vor, aber schnell war Rivera klar, daß es sich um Bob Dylan handelte. Der lud sie zu einer spontanen Probe ins Studio ein. Rivera überzeugte restlos und bekam anschließend das Angebot, ihn auf dem neuen Album zu begleiten. Die Suche nach weiteren geeigneten Mitstreitern gestaltete sich schwieriger. Am 14. Juli fand im Columbia Studio E in New York die erste Session statt. Als Produzent fungierte Don DeVito, ein ehemaliger Gitarrist und inzwischen hochrangiger Angestellter bei Columbia Records. Neben Scarlet Rivera waren Dave Mason und Mitglieder seiner Band sowie einige Studiomusiker an den Aufnahmen beteiligt. Das Ergebnis war enttäuschend, und Bob Dylan tauchte wieder in das Nachtleben von Greenwich Village ein, wo er auf den Bassisten Rob Stoner traf, der, als Bob Rothstein, unter anderem schon auf Don McLeans „American Pie“ gespielt hatte. Als zwei Wochen nach der ersten die zweite Session anstand, gehörte auch Emmylou Harris zu den mehr als zwanzig anwesenden Musikern. Eric Clapton fühlte sich neben fünf weiteren Gitarristen etwas überflüssig und verließ die chaotische Veranstaltung schnell wieder. Vorher gab er aber Dylan noch den Rat, es doch mit weniger Leuten zu versuchen. Am übernächsten Tag brachte Stoner seinen Kumpel, den aus einer Dynastie von Buchillustratoren stammenden Schlagzeuger Howie Wyeth, mit zur vierten Session, und endlich stand das Gerüst.

 

Am 11. August schlossen ein paar Overdubs für „Joey“ die Aufnahmen für „Desire“ vorerst ab, und am 10. September präsentierte Dylan, begleitet von Rivera, Stoner und Wyeth, in der TV-Show „The World Of John Hammond“ (die aber erst am 13. Dezember ausgestrahlt wurde) mit „Hurricane“ und „Oh, Sister“ erstmals zwei Stücke des neuen Albums (sowie „Simple Twist Of Fate“ vom Vorgänger).

Zu diesem Zeitpunkt wurden die Pläne für eine Tournee ausführlich diskutiert. Nach der, von gewaltigem medialem Rummel begleiteten Mega-Tour des Vorjahres, schwebte Bob Dylan nun ein ganz anderer Rahmen vor. Er wollte mit einem Tross, bestehend aus einer festen Band und beliebig wechselnden Freunden und Bekannten, gleich einem Zirkus durchs Land ziehen und unangekündigt in kleineren Hallen auftreten. Zur Band, die sich Guam nannte, gehörten neben Rivera, Stoner und Wyeth noch T-Bone Burnett, David Mansfield, 19-jähriges Wunderkind und Multiinstrumentalist, der Gitarrist Steven Soles, Schlagwerker Luther Rix, Dylans alte Weggefährten Bob Neuwirth und Roger McGuinn, die Sängerin Ronee Blakley sowie Mick Ronson, der schon auf David Bowies Meisterwerken „Hunky Dory“ und „Ziggy Stardust“ zu brillieren wußte.

 

Nach einigen Proben startete der erste Teil der „Rolling Thunder Revue“ am 30. Oktober 1975 mit einem Konzert im War Memorial Auditorium in Plymouth, Massachusetts. Am 8. Dezember fiel im New Yorker Madison Square Garden erst einmal der Vorhang. War die Tour anfänglich tatsächlich ein eher „mittelständisches Unternehmen“, wurden Hallen und Zuschauerzahlen gegen Ende immer größer, hauptsächlich als Reaktion auf das stark zunehmende Medieninteresse.

Vom ersten Konzert an war auch Joan Baez ein fester Bestandteil des Programms. Sie sang solo und in Duetten mit Bob Dylan. Mit David Blue (der jedoch nicht auftrat) und Ramblin' Jack Elliott hatte Dylan weitere alte Gefährten aus der Zeit im Greenwich Village eingeladen. Phil Ochs und Eric Andersen hingegen hofften vergeblich. Mehr oder weniger bedeutende Gastrollen spielten auch Joni Mitchell, Arlo Guthrie und Kinky Friedman (der im April 1976 zur Truppe stieß).

 

Der zweite Teil der Tournee (April bis Mai 1976), bei dem die eher ungezwungene Atmosphäre häufig einer professionellen Anspannung weichen mußte, und bei der auch wegen mangelnder Nachfrage einige Termine gestrichen wurden, sei hier nur am Rande erwähnt, genauso wie der vierstündige Film „Renaldo & Clara“, den Dylan aus Aufnahmen von der ersten Tourphase zusammenstellte und 1978 veröffentlichte.

Im ersten Teil der Tour waren sechs Songs der noch unveröffentlichten LP („Desire“ kam erst am 16. Januar 1976 in den Handel und besetzte fünf Wochen lang die Spitze der Charts) fester Bestandteil des Programms. Zwei weitere erlebten ihre Premiere im Frühjahr 1976. Nur „Joey“ mußte bis 1987 warten.

Am 25. Januar 1976 fand im Houston Astrodome die „Night Of The Hurricane 2“ statt. An diesem Abend, der, wie schon die erste „Night Of The Hurricane“ im Madison Square Garden, Rubin Carter gewidmet war, sang Bob Dylan zum letzten Mal in seiner Karriere „Hurricane“.

 

Der Song eröffnet „Desire“. Einem kurzen Geigen-Intro folgt „Pistol shots ring out in a barroom night“ und reißt einen sofort hinein in diese Mördergeschichte um falsche Anschuldigungen, rassistische Vorurteile, voreingenommene (wenn nicht korrupte) Geschworene, falsche Zeugen und einen ausgewachsenen Justizskandal. Dylans ehrliche Empörung sah sich jedoch der Kritik gegenüber, einige Tatsachen einer guten Story geopfert zu haben. Da war es eher noch harmlos, daß der Boxer Rubin „Hurricane“ Carter 1966, als das ihm angelastete Verbrechen geschah, schon längst auf dem absteigenden Ast und alles andere als ein Anwärter auf die Krone im Mittelgewicht war. Ernst wurde es, als Dylan, der in dem Song ja ganz klar Ross und Reiter nennt, in einer Szene die Beteiligten schlicht verwechselte und auch noch eine Tat ins Spiel brachte, die nie Gegenstand der Verhandlung war.

Als er den Song im Juli 1975 aufnahm, begleitete ihn Emmylou Harris als Sängerin. Im Gegensatz zur LP-Version ist „Hurricane“ hier nicht nur etwas weniger schwungvoll, es ist auch zwei Minuten länger. Der Text weicht in einigen Passagen etwas ab, das ist bei Dylan aber nicht ungewöhnlich. Spannend wird es in der zweiten Strophe! Denn anstelle von Albert Bello treibt sich hier Arthur Dexter Bradley in der Nähe der drei Toten herum. Und er beteuert: „I was only robbin' the bodies“. Nur stand „Leichenfledderei“ nie zur Debatte! Es ging lediglich um einen Griff in die Ladenkasse. Vorerst schien das niemanden zu stören. Als Dylan aber „Hurricane“ in der oben bereits erwähnten Fernsehshow im September öffentlich aufführte und den inhaltlich ungenauen Text erneut sang, wurden wohl einige Anwälte der Plattenfirma hellhörig. Es nützte nichts, so konnte man das ohnehin schon reichlich explosive Stück nicht veröffentlichen. Und so kam es am 24. Oktober in New York zu einer Neuaufnahme. Allerdings hatte Emmylou Harris anderweitige Verpflichtungen, so daß Ronee Blakley einspringen mußte. Sollten Sie sich schon immer gewundert haben, warum ausgerechnet bei diesem Stück eine andere Sängerin den Duett-Part übernommen hat, wissen Sie nun den Grund. Albert Bello hielt also, korrekt nach Aktenlage, Einzug in die zweite Strophe, und er „was only robbin' the register“. Man konnte sich wieder den Tourproben zuwenden und „Hurricane“ im November als Single an den Start bringen (Platz 33 in den USA). Dafür wurde der überlange Song auf zwei Plattenseiten verteilt. Es existieren übrigens an amerikanische Radiostationen verschickte Vorab-Pressungen der Single, auf denen in der dritten Strophe das Wort shit mit einem auffälligen Piep-Ton überblendet wird! Das war aber dann irgendwann selbst den Amis zu albern, und der Song konnte endlich seine Ruhe finden. Der unschuldig wegen dreifachen Mordes verurteilte Carter mußte jedoch noch bis November 1985 auf seine Freilassung warten.

 

Über „Isis“, das zweite Stück des Albums, wurde schon viel geschrieben und noch mehr spekuliert. Wohl geht es um eine Trennungsgeschichte mit scheinbar positivem Ausgang (wir erinnern uns, daß es um Dylans Ehe zu jener Zeit nicht besonders gut stand). Ein Grabräuber betritt die Szene und stirbt bald darauf. Ägyptische Mythologie spielt auch eine Rolle. Diese wird aber entweder über- oder unterschätzt, je nachdem, wem man gerade sein Ohr leiht. Allgemein zählt „Isis“ zu den hochangesehenen Songs in Dylans Gesamtwerk. Mich jedoch konnte es nie wirklich packen. Auch die Live-Versionen (unter anderem zu hören auf dem 2002 erschienenen „The Bootleg Series Vol. 5“) zählen nicht zu meinen Favoriten der Rolling-Thunder-Tour. Patti Smith gab Dylan damals übrigens den Rat, während „Isis“ kein Instrument zu spielen und sich ganz auf den Gesang zu konzentrieren. Der entgegnete ihr, er wüßte dann nicht, was er mit seinen Händen anstellen solle. „Mach 'ne Faust!“

 

Nach diesen beiden Schwergewichten verschafft das leichtfüßige „Mozambique“ mit seiner Liebes- und Urlaubsromantik dem Hörer eine Atempause. Angeblich entstand der Song aus dem Versuch, so viele Wörter wie möglich zu finden, die sich auf „-ique“ reimen. In den Fokus der beiden Autoren geriet das afrikanische Land womöglich durch das Erringen seiner Unabhängikeit von Portugal am 25. Juni 1975, also ziemlich genau einen Monat vor der Aufnahme des Songs. Im Januar 1976 wurde das Stück zusammen mit „Oh Sister“ als zweite Single aus „Desire“ ausgekoppelt und kam in den USA auf Rang 54.

 

Als Bob Dylan in Südfrankreich weilte, besuchte er dort ein Zigeuner-Festival und ließ sich zu „One More Cup Of Coffee (Valley Below)“ inspirieren. Der Song entstand mehrere Monate vor den anderen und ist einer von zweien auf „Desire“, der ohne Jacques Levys Zutun geschrieben wurde. Sein orientalisches Flair verdankt er zum Teil natürlich Scarlet Riveras Geigenspiel, aber auch Dylans Duett mit Emmylou Harris. Wenn ihnen das noch nicht exotisch genug ist, darf ich auf eine der vielen guten Coverversionen verweisen. Sertab Erener, eine türkische Popkünstlerin, gewann 2003 den Eurovision Song Contest (am 24. Mai, Dylans Geburtstag). Der Siegertitel „Every Way That I Can“ wurde natürlich umgehend auf einer CD-Single veröffentlicht (mit insgesamt vier verschiedenen Versionen). Der fünfte Track auf dieser Single überraschte dann doch: „One More Cup Of Coffee“ in einer 1001-Nacht-Version. Und die fand dann im Juli 2003 sogar den Weg auf den Soundtrack für Dylans Film „Masked And Anonymous“. Für die Vinylausgabe war Classic Records zuständig, und jedes der 14 Stücke ist die Anschaffung wert.

 

Oh, Sister“ beendet die erste Seite. Es ist Dylans erstes Liebeslied, in dem er Gott beim Werben um eine Frau ins Spiel bringt. Da Dylan selbst keine leibliche Schwester hat, meinte Joan Baez, daß das Stück von ihr handle. Wie auch immer, auf der Tour 1978 nimmt die Nummer recht bedrohliche Züge an (nachzuhören auf „Bob Dylan At Budokan“). Noch aber ist sie ein romantisches Liebeslied, und wieder hat Emmylou Harris einen gewaltigen Anteil daran. Als Dylan sie im Sommer 1975 für „Desire“ engagierte, begann ihr Stern gerade erst zu leuchten. Im Februar hatte sie mit „Pieces Of The Sky“ ihr erstes Album bei einer namhaften Plattenfirma veröffentlicht. Den tragischen Tod Gram Parsons' zwei Jahre zuvor hatte sie noch längst nicht verarbeitet, fühlte sich von Dylans Angebot aber natürlich geehrt. Nur, wirklich glücklich war sie dann mit den Arbeitsbedingungen im Studio nicht. Als Sängerin, und vor allem Duett-Partnerin, bevorzugte sie genaue Anweisungen dazu, was von ihr erwartet wurde. Die „Desire“-Sessions liefen aber alles andere als professionell ab. Das allgemeine Chaos hätte einer straffen Hand bedurft. Dylan war dazu nicht in der Lage oder hatte einfach keine Lust, den Schulmeister zu geben. Viel lieber ließ er sich von den Ergebnissen überraschen. Und so wurde auch Emmylou Harris gesagt, sie solle einfach drauf los singen. Nun versuchen Sie mal, jemanden gesanglich zu begleiten, der kein Lied je zweimal identisch vorgetragen hat! Sie konnte einem leid tun. Umso tiefer muß man sich verbeugen, wenn man dann die Ergebnisse hört.

1985 erschien in England eine Nachauflage von „Desire“ sowohl auf Vinyl als auch einer Kassette, auf der „Oh, Sister“ am Ende versehentlich nicht sofort ausgeblendet wurde, sondern man Emmylou Harris noch „I fucked up!“ sagen hört. Wie es überhaupt zu dieser Veröffentlichung kommen konnte (die auch schnellstens wieder aus dem Verkehr gezogen wurde), ist mehr als rätselhaft. Aber wir verdanken ihr einen kleinen Einblick in Emmylous Gemütszustand.

 

Joey“, der längste Song des Albums, eröffnet die zweite Seite. Ein großartiges Mafia-Epos breitet sich vor dem Hörer aus, nimmt ihn gefangen, hält die Spannung aufrecht bis zum letzten Ton. Angeblich in einer einzigen Nacht geschrieben, nannte Dylan das Stück später eine „homerische Ballade“. Aber weder seine literarischen noch die musikalischen Qualitäten erregten die Gemüter, sondern Dylans romantische Verklärung eines brutalen Gangsterbosses. Das Problem war: Joey Gallo hatte es wirklich gegeben. Und nach seinem gewaltsamen Tod 1972 war die Erinnerung an ihn noch recht frisch. Es gibt ellenlange Aufsätze, die jede von Joeys Gemeinheiten aufzählen und jedes Detail den Beschreibungen im Liedtext gegenüberstellen. Und es wird Gift und Galle gespuckt (namentlich von Lester Bangs). Konnte man die kleinen Ungenauigkeiten in „Hurricane“ noch mit „dichterischer Freiheit“ entschuldigen, war man dazu bei der massiven „Geschichtsverfälschung“ im Falle „Joey“ nicht mehr bereit. „Wie kann er nur!?“ Daß Dylan sich jedoch für die Geschichte eines Italo-Typen aus Brooklyn, der im Gefängnis Kafka, Balzac und Flaubert gelesen hatte, sich dort mit Farbigen anfreundete und danach ein gern gesehener Gast in New Yorker Künstlerkreisen war, interessierte, ist durchaus nachvollziehbar. Heute, fast 40 Jahre später, bleibt für jemanden wie mich, der organisiertes Verbrechen nur aus Filmen und Büchern kennt, unterm Strich lediglich ein faszinierendes Stück Musik. Und wer fragt denn bei Robin Hood nach der historischen Korrektheit?

Im Juli 1987 spielte Bob Dylan „Joey“ auf Drängen Jerry Garcias einige Male während der Tour mit den Grateful Dead. Dabei sang er jedoch nicht sämtliche zwölf Strophen. Nur sei hier noch einmal ausdrücklich davor gewarnt, zuviel in geänderte Textpassagen oder weggelassene Strophen bei Dylans Live-Aufführungen hineininterpretieren zu wollen!

 

Auf einen Mafia-Streifen folgt ein Western. „Romance In Durango“ berichtet von einer Flucht nach Mexiko. Nach einer Kneipen-Schießerei hat sich der Erzähler sein Mädchen geschnappt und hält dieses mit der Aussicht auf ein rauschendes Hochzeitsfest bei der Stange. Chili, Fandango, Tequila, eine Mariachi-Band, alles da. Und bald haben sie es geschafft! Während der „Rolling Thunder Revue“ war der Song in einer etwas beschleunigten Version ein absoluter Höhepunkt. Und es ist einer von lediglich zwei Dylan-Songs, in dem eine Fremdsprache vorkommt (hier Spanisch). Der andere heißt „Black Diamond Bay“ und folgt auf dem Fuße.

Allerdings werde ich hier wegen Befangenheit nicht näher auf das Stück eingehen. Alle, die es interessiert, können ja „Black Diamond Bay“ zusammen mit meinem Namen googeln. Haben Sie Ihre eigene Stimme schon einmal von einer Schallplatte gehört? Ich kann Ihnen dieses Erlebnis nur wärmstens ans Herz legen! Ein Buch schreiben, einen Sohn zeugen, ein Haus bauen – diese Preisklasse etwa.

 

Natürlich ist „Sara“ das zweite Stück, das ohne Jacques Levys Unterstützung entstand. Ein Liebeslied schreibt ein Mann immer noch allein! Und in diesem, eingebettet in eine Szene am Strand, läßt uns der notorisch öffentlichkeitsscheue Künstler in sein Privatleben blicken wie nie zuvor. Sehr poetisch und frei von jeder vorwurfsvollen Bitterkeit läßt Dylan Szenen einer Ehe Revue passieren, die im November 1965 geschlossen wurde und nun vor einem Scherbenhaufen stand. Als er den Song am 31. Juli 1975 in New York aufnahm, war seine Frau nach einem längeren Urlaub in Mexiko erstmals und unerwartet im Studio. Und sie hätte schon ein Herz aus Stein haben müssen, wenn sie nach diesem Liebesbeweis der Beziehung (aus der vier gemeinsame Kinder hervorgingen) nicht noch einmal eine Chance gegeben hätte. Zwei Jahre später wurde die Ehe dann aber doch geschieden. Lieder sind eben nicht alles. Nicht einmal solche.

Auf der Coverrückseite findet sich übrigens das einzige Bild Saras auf einer von Dylans LPs.

 

Mit fast einer Stunde Spielzeit ist „Desire“ ein außergewöhnlich langes Album. Schließlich befinden wir uns noch in der Prä-CD-Ära. Keine andere von Dylans Platten wurde so stark von zwei Frauen (Sara mal nicht mitgerechnet) geprägt, wie diese. Ohne die engelsgleichen harmony vocals von Emmylou Harris und ohne Scarlet Riveras Geige hätte „Desire“ nicht diese etwas mystische, exotische und verträumte Aura, die ich so liebe. Jeder andere Künstler hätte nach dem riesigen künstlerischen wie kommerziellen Erfolg des Albums mindestens noch einen zweiten Versuch mit den beiden Damen gewagt. Aber Dylan war bereits wieder unterwegs.

 

Sollten Sie den Eindruck gewonnen haben, dieser Text wäre überlang geraten, darf ich Ihnen versichern, daß ich noch nie so viel weggelassen habe, wie hier! Zähneknirschend! Und ich bin noch nicht fertig!

Denn auch der Klang von „Desire“ hat Ungewöhnliches zu bieten.

 

1971 entwickelte Columbia das sogenannte SQ-Verfahren zur räumlichen Wiedergabe im Quadro-Sound. Ein regelrechter Boom setzte ein, der jedoch nicht lange anhielt. Die Industrie konnte sich nicht auf einen gemeinsamen Standard einigen, und die Konsumenten scheuten zunehmend die hohen Kosten für die entsprechende Wiedergabetechnik. Im Jahr 1976 war das Interesse an Quadrophonie-Ausgaben schon arg im Sinken, aber man entschloß sich dennoch, „Desire“ auch als solche zu veröffentlichen, und Don DeVito unterzog die Masterbänder einem herzhaften Remix. Neben dem Sound finden sich die markantesten Unterschiede zur Stereo-Version in den Texten zu „Isis“ und „Romance In Durango“. Jeweils in der dritten Strophe versingt sich Dylan, was für die „normale“ Pressung korrigiert wurde. Quadro-Versionen von „Desire“ wurden neben den USA in Australien, Neuseeland, Holland und Spanien veröffentlicht. Weitere Länder sind möglich, aber nicht verbürgt. Bereits 1974 erschien „Nashville Skyline“ auch als Quadro-LP. Im selben Jahr war auch das bei Asylum Records entstandene „Planet Waves“ in diesem Format erhältlich, allerdings unter Verwendung des konkurrierenden Quadradisc-Systems. Da SQ-Platten stereokompatibel sind, habe ich meine spanische Ausgabe (CBS Q 86003) für den direkten Vergleich mit herangezogen. Ebenfalls dabei sind die US-Promo-Ausgabe (Columbia PC 33893), mein holländischer Erstling (CBS 86003) sowie eine japanische Erstausgabe (CBS/SONY SOPO-116). Gern wird heute auch die Nachauflage aus dem Jahr 1977 (CBS/SONY 25AP 289) als vermeintliche Erstpressung angeboten. Diese hat aber neben einem anderen Obi-Strip (die Papierbanderole, ohne die eine Japan-LP nicht wirklich vollständig ist) auch ein um Kurzbiographie und Diskographie erweitertes Booklet, das das erst im September 1976 erschienene „Hard Rain“ aufführt. Klanglich unterscheiden sich beide Platten jedoch nicht.

 

Alle vier Kandidaten klingen recht gut, mit perfekter Raumaufteilung, einem fetten Bass und sehr natürlichem Sound, vor allem auch der allgegenwärtigen Geige. Und doch sticht die japanische Pressung heraus, die in Sachen Dynamik noch eine gehörige Schippe drauflegt. Die Quadro-Version (die ich natürlich nur in Stereo hören kann) macht den eindeutig ausgewogensten Eindruck. So wird hier gelegentlich der Gesang etwas mehr in den Vordergrund gemischt, wenn es die Begleiter ein wenig zu bunt treiben. Der Platte entströmt eine schwer zu beschreibende innere Ruhe. Will man sich ganz entspannt der Musik hingeben, es aber beim nächsten Hören auch mal so richtig krachen lassen, heißen die Schlüssel zum Glück „Quadro“ und „Japan“. Für den Alltag tut es aber auch eine der Anderen. Da alle vier Platten mit 110 bis 120 Gramm Gewicht nicht eben protzen, bin ich schon sehr auf die längst angekündigte (aber immer noch nicht erschienene) MFSL-Edition gespannt.

Und noch ein Hinweis zum Schluß: nicht nur die Cover, auch die Innenhüllen vieler „Desire“-Ausgaben sind aus sehr stabiler Pappe gefertigt. Spendieren Sie also Ihren Platten unbedingt noch eine zusätzliche gefütterte Schutzhülle! Sie werden es Ihnen danken!

Nachtrag: Endlich ist die MFSL-Pressung (2x 180 Gramm, 45 RPM) erhältlich (März 2014). Sie geht nicht mit der etwas naßforschen Dynamik der Japanerin zu Werke, legt eher einen extrem selbstbewußten, souveränen Auftritt hin. Im Gegensatz zur Quadro-Version liegen Gesang und Begleitung wieder auf einer Linie. Für Dylan-Sammler sowieso, aber auch für Leute, die gerade dieses Album lieben ein Muß (trotz des stolzen Preises).

 

 

Musik: außer Konkurrenz

Klang: 7,5 (USA, 1976)

Klang: 7,5 (Holland, 1976)

Klang: 8,5 (Japan, 1976)

Klang: 8,5 (Spanien, 1976)

 

Ronald Born, August 2013