Wings – Venus And Mars (1975)

 

Wenn Sie zu denen gehören, die hier regelmäßig vorbeischauen, sagen Sie jetzt vielleicht: „... na gut, aber wo bleiben die Beatles? Mag er die etwa nicht?“. Ich kann Sie beruhigen. Das Gegenteil ist der Fall, aber genau deshalb schrecke ich vor der Aufgabe noch etwas zurück.

Und da Paul McCartney (soviel sei bereits verraten) mein Lieblings-Beatle war und ist, sind jetzt erst einmal seine Wings dran.

Die Entstehungsgeschichte dürfte allgemein bekannt sein. Nach zwei Solo-Alben entschloß sich McCartney zur Gründung einer neuen Band, in der neben seiner Frau Linda der Session-Drummer Denny Seiwell und Ex-Moody-Blues-Gitarrist Denny Laine spielen sollten. Das erste Ergebnis hieß „Wild Life“ (1971), eine Platte mit ausgesprochenem Live-Charakter, eingespielt in Rekordzeit von gut einer Woche. Nachdem im Januar 1972 der Gitarrist Henry McCullough die Band verstärkt hatte, ging man in England auf eine Tour durch verschiedene Universitäten und spielte anschließend noch in kleineren Hallen auf dem Festland. Bei diesen ersten Live-Auftritten eines Ex-Beatle gab es jedoch keine Beatles-Songs zu hören, wohl, um deutlich zu unterstreichen, daß das hier etwas ganz Neues war.

 

Nach einigen Umbesetzungen und zwei weiteren LPs (ob nun als „Paul McCartney and Wings“, „Paul McCartney & Wings“ oder einfach nur „Wings“ macht für mich keinen Unterschied) begannen die Aufnahmen für „Venus And Mars“ im November 1974 in London. „Band On The Run“ (1973) hatte endlich auch die Kritiker begeistert und die Erwartungen in astronomische Höhen getrieben. Dem hätte nichts gerecht werden können außer einer Beatles-Reunion. Doch die war weniger denn je in Sicht. Am 19. Dezember 1974 hatten Paul McCartney und George Harrison im New Yorker Plaza Hotel einen komplizierten Vertrag unterschrieben, der die Auflösung der Band besiegelte und alle möglichen rechtlichen Dinge regelte. Ringo hatte bereits in England unterzeichnet, und zehn Tage später machte dann John Lennon mit seiner Unterschrift die Sache endgültig amtlich. Bei dem vereinbarten Treffen im Plaza hatte er gefehlt, da seiner Meinung nach die Sterne ungünstig standen.

Auch ich schließe mich der allgemein vorherrschenden Auffassung an, daß „Band On The Run“ das beste Wings-Album ist. Interessanter schien es mir jedoch, den Nachfolger mal etwas genauer zu beleuchten.

 

Ursprünglich war geplant, die gesamte Platte in den USA aufzunehmen. Aber es gab Probleme für Denny Laine, ein Visum zu bekommen. Also begann man in den Abbey Road Studios. Jimmy McCulloch, der schon mit 15 Jahren bei Thunderclap Newmans Hit „Something In The Air“ Gitarre gespielt hatte, und Schlagzeuger Geoff Britton waren neu eingestiegen. „Letting Go“, „Love In Song“ und „Medicine Jar“ waren ihre ersten Aufnahmen. Außerdem versuchte man sich schon einmal an „Rock Show“. Im Januar 1975 zog man dann endlich nach New Orleans um. Die englische Steuergesetzgebung hatte auch schon andere Bands im Ausland nach künstlerischer Inspiration suchen lassen. Während es in der Schweiz damals keine angemessenen Tonstudios gab, erwartete die Band in New Orleans das Sea-Saint von Allen Toussaint. Toussaint hatte sich nicht nur als Pianist, sondern auch als Songschreiber („Ruler Of My Heart“, „Lipstick Traces“ oder „Fortune Teller“) und Arrangeur einen legendären Ruf erworben (so stammen die Orchesterbearbeitungen auf The Bands „Rock Of Ages“ und später auch einige auf „The Last Waltz“ von ihm). Die Sessions begannen am 16. Januar und endeten am 24. Februar. Erstmals hatte Paul McCartney schon vorher sämtliche Songs beisammen, eine Arbeitsweise, die er auch später fortführen sollte. An einem der Studioabende kam es sogar zu einer spontanen Session mit lokalen Größen wie Toussaint, Professor Longhair und Dr. John sowie Gitarrist Dave Mason (Ex-Traffic). Es ist übrigens eine Tatsache, daß auch John Lennon, der damals mit May Pang zusammen war, geplant hatte, nach New Orleans zu reisen, um mit seinem ehemaligen Kollegen Songs zu schreiben und aufzunehmen. Doch kurz bevor es dazu kommen konnte, kehrte er in Yokos Arme zurück, und es sollte sich nie wieder eine Chance bieten.

 

Während der Sessions kam es zu Differenzen mit Schlagzeuger Geoff Britton, der daraufhin nach England zurückkehrte. In einem Interview erklärte er später, daß es aus musikalischer Sicht ein Privileg war, in dieser Band zu spielen, karrieretechnisch jedoch Wahnsinn, da man, egal wie gut man auch sei, immer im Schatten McCartneys stehen würde. Ich hätte ja gedacht, daß das jedem vorher klar war. Anschließend war Britton dann Mitglied bei Manfred Mann's Earth Band, was zumindest nach seinen obigen Ausführungen nicht gerade als logischer Schritt auf der Karriereleiter erscheint. Seinen Platz übernahm der junge Amerikaner Joe English, der immerhin bis „London Town“ (1978) bei den Wings blieb.

 

Im Gegensatz zum sehr geschlossen wirkenden „Band On The Run“ ist „Venus And Mars“ eher ein musikalischer Gemischtwarenladen. Neben veritablen Rockern gibt es Balladen aber auch heftige Soul- und Bluesanleihen („Call Me Back Again“). Bei „You Gave Me The Answer“ frönt McCartney dann wieder seiner Liebe zur englischen Music-Hall-Tradition. Man kannte das ja schon von „When I'm 64“ und „Honey Pie“, die beide gar nicht mein Ding sind. Live sollte er den Song dann gelegentlich Fred Astaire widmen.

Wohl, um zu demonstrieren, daß die Wings eine „richtige“ Band sind und nicht nur die Plattform für die große Macca-Show, durften Denny Laine („Spirits Of Ancient Egypt“) und Jimmy McCulloch („Medicine Jar“) jeweils ein Stück als Leadsänger interpretieren. Letzteres hatte McCulloch zusammen mit seinem Kumpel Colin Allen (damals Drummer bei Focus) geschrieben, und McCartney fand, daß es gut zu seinen eigenen Songs passen würde. Im folgenden Jahr (auf „Wings At The Speed Of Sound“) sollten dann sogar sämtliche Bandmitglieder Gelegenheit bekommen, ihre sängerischen Fähigkeiten nachzuweisen. Das ist sicher eine nette Idee, um in einer Band für eine zufriedene Atmosphäre zu sorgen, aber keine gute, um ein stringentes Album abzuliefern.

Schon „Venus And Mars“ fehlten die ganz großen Melodien, die einem bereits nach dem ersten Hören nicht mehr aus dem Kopf gingen, mit denen „Band On The Run“ noch so verschwenderisch ausgestattet war. Häufiger Einsatz im Radio machte dann aber zumindest „Listen To What The Man Said“ in einer gekürzten Version zum Nummer-1-Hit in den USA (Platz 6 in England). Für die nächste Single („Letting Go“) war dann aber bereits auf Rang 39 (bzw. 41) die Reise zu Ende.

 

Textlich bot die LP wieder genügend Material für Spekulationen. Seit fünf Jahren existierten die Beatles praktisch nicht mehr, was ihre Fans aber nicht davon abhielt, jede Äußerung ihrer ehemaligen Mitglieder, ob in Interviews oder auf Platten, nach einem Hoffnungsschimmer abzuklopfen. „Magneto And Titanium Man“ handelte eindeutig von Marvel-Comic-Figuren, da Paul kürzlich seine Leidenschaft für Comics reaktiviert hatte. Da gab es nicht viel zu holen. Aber daß es in „Call Me Back Again“ um ein Mädchen gehen sollte, war den Spürnasen viel zu trivial. Für sie war der Adressat des Liedes eindeutig John Lennon. Kürzlich machte auch ein Gerücht die Runde, Paul McCartney hätte den Song „Venus And Mars“ noch am Abend des geplatzten Treffens im Plaza Hotel geschrieben. Die erste Strophe der ursprünglichen Version lautete demnach: „Sitting in the suite of the Plaza Hotel / Waiting for the end to begin / Bloody papers, strawberry line / A good friend of mine follows the stars / Yoko and John are alright tonight“. Auch wenn, wie schon erwähnt, Lennon zu diesem Zeitpunkt ja noch mit May Pang zusammen war, ist das eine hochinteressante Geschichte. Im Sommer 2014 soll in der Paul McCartney Archive Collection eine Deluxe-Ausgabe, bestehend aus zwei CDs und einer DVD, erscheinen. Vielleicht findet diese Story ja dort dann Bestätigung? Ein weiterer Gedanke, den ich mal irgendwo aufgeschnappt habe, scheint zumindest eine Überlegung wert. Wollte Paul McCartney mit „Venus And Mars“ sein eigenes „Dark Side Of The Moon“ schaffen? Als Produzent und Bandleader war er mit dem Sound der Platte unzufrieden. Und so ging man am Ende der Sessions nach Los Angeles in eines von Wally Heiders Studios, um zusätzlichen Backgroundgesang und Streicher aufzunehmen, die LP abzumischen und das Mastering in Wally Traugotts bewährte Hände zu legen. Zum Klang komme ich noch, aber auch in der Covergestaltung ist die Nähe zu Pink Floyds 1973er Album unverkennbar: Klappcover, farbiges Motiv vor dunkelblauem Hintergrund, Design von Hipgnosis (bei den Wings auf die Innenseite beschränkt), Zusammenarbeit mit dem Grafiker George Hardie, Beilagen jeweils zwei Poster und zwei Sticker. Alles Zufall?

 

Auch wenn man nicht an den unglaublichen Erfolg von „Dark Side Of The Moon“ herankam (bis heute gelang das außer „Thriller“ eh keiner Platte), wurde in den USA, in England, Norwegen, Neuseeland, Kanada und Frankreich die Spitze der LP-Charts eingenommen.

Als das Album fertig war, gab die Band am 24. März eine gewaltige Party an Bord der Queen Mary in Long Beach. Zu den Gästen zählten George Harrison, Bob Dylan, Joni Mitchell, Cher, Phil Everly, Carole King, Rod Stewart und Marvin Gaye. Und ein betrunkener Dean Martin grölte: „Wer zum Teufel gibt diese Party überhaupt? Kenne ich diese Leute?“. Genüßlich ausgebreitet wurde das von Lindas ehemaliger Freundin Blair Sabol in einer legendären Cover-Story für die Village Voice, in der Linda schrecklich durch den Kakao gezogen wurde. Ihre Rolle in der Band war für Außenstehende immer umstritten. Und wenn dann Frauen darüber schrieben, kamen noch Neid und Mißgunst hinzu. Das Foto auf dem Frontcover (zwei Snookerkugeln) hatte Linda geschossen. Aber nicht etwa, weil sie die Frau des Chefs war, sondern eine hervorragende Fotografin. Ihr erster großer Job in dem Metier war ein Shooting mit den Rolling Stones auf einer Yacht auf dem Hudson River. Das war im Sommer 1966 und sie hieß noch Linda Eastman. Daß sie der Fotodynastie Eastman Kodak entstammte, ist ein Gerücht, das sich hartnäckig hält, aber falsch ist.

Auch ich weiß nicht wirklich, wie konstruktiv ihre Beiträge bei den Wings tatsächlich waren. Aber auch wenn sie nur beständig dafür sorgte, daß ihrem Mann seine eigene Genialität nicht auf die Füße fiel, war das weit mehr, als sogenannte Musikerfrauen gemeinhin zu tun pflegten.

 

Venus And Mars“ erschien am 27. Mai 1975 in den USA und drei Tage später in England. Es war Paul McCartneys erste Soloproduktion, die nicht mehr bei Apple, sondern nun bei Capitol Records veröffentlicht wurde. Während auf dem Live-Album „Wings Over America“ (1976) immerhin acht Songs der Platte zu hören sind, findet sich auf der Compilation „Wings Greatest“ (1978) kein einziger. Dafür nahm Amiga für seine eigene Zusammenstellung „Paul McCartney und Wings“ (1981) immerhin „Listen To What The Man Said“ ins Programm.

Bei der Bewertung des immensen Erfolges dieser Band ist der Beatles-Bonus natürlich gar nicht hoch genug anzusetzen. Aber stellen wir uns doch einmal vor, es hätte zwar John, Paul, George und Ringo, doch niemals ihre gemeinsame Band gegeben. Ich weiß, daß das nicht einfach ist, aber geben Sie sich einfach mal etwas Mühe. Wie wäre es wohl dem Musiker Paul McCartney und den Wings ergangen? Wahrscheinlich wären die Chartnotierungen nicht ganz so euphorisch ausgefallen, und die Verkaufszahlen hätten dementsprechend wohl eine Stelle weniger vor dem Komma, aber ich bin ziemlich sicher, daß wir uns auch heute noch an jede ihrer Platten aus den 1970ern erinnern würden. Für, sagen wir mal, „Stop And Smell The Roses“, „Somewhere In England“ und sogar „Mind Games“ hingegen würde ich da meine Hand nicht ins Feuer legen.

 

Die geringste Entfernung zwischen Venus und Mond liegt bei etwa 39 Millionen Kilometern. Klingt viel, ist aber, gemessen an astronomischen Dimensionen, nicht mehr als ein Katzensprung. Die klanglichen Dimensionen, die „Venus And Mars“ von „Dark Side Of The Moon“ trennen, sind hingegen deutlich hörbar. Und das hat einen eindeutigen Grund. Wenn erstere mit dem Titelsong und einer akustischen Gitarre beginnt, geht förmlich die Sonne auf, um mal im Bild zu bleiben. Nach gut einer Minute ist jedoch der mit Abstand am besten klingende Teil der gesamten Platte vorüber, und der Kontrast zum folgenden „Rock Show“ ist nichts weniger als dramatisch. Wohl um die Boxen in den Wohnzimmern der Konsumenten nicht an ihre Grenzen zu treiben, wurden sämtliche Regler heftig nach unten gezogen. Das Ergebnis klingt nach tiefhängenden Regenwolken über einem Schrottplatz. Das Problem der gesamten Scheibe ist, daß irgendwer (eigentlich kommt da ja nur einer in Frage) nach dem finalen Mix beschloß, alles noch durch einen Kompressor zu jagen, was zur Folge hatte, daß das Klangspektrum stark eingeengt wurde, die Mitten extrem dominieren und alles einfach nur flach klingt. Auch die Differenzierung der einzelnen Instrumente leidet hörbar. Angeblich schlummert in den EMI-Archiven noch das Band mit dem unkomprimierten Mix, das jedoch bis zum heutigen Tag nicht freigegeben wurde.

Die Masteringingenieure mußten also mit dem Material klarkommen, das sie vorgelegt bekamen. Und da gibt es dann doch noch Unterschiede zu hören. Während sich meine US-Ausgabe (Capitol SMAS-11419) und die Japan-Pressung (Capitol EPS-80236) auf vergleichbar beschnittenem Niveau bewegen, reißt bei der englischen (Capitol PCTC 254) und auch der deutschen (Capitol 1C 062-96 623) Version doch noch gelegentlich die Wolkendecke auf. Die englische ist „A Porky Prime Cut“ (siehe „Fotheringay“), also das Werk George Peckhams. Wer in Deutschland dafür sorgte, daß auch diese Platte luftiger, detailreicher und dynamischer klingt als die Exemplare jenseits des Großen Teiches, ist mir nicht bekannt.

Bleibt nur zu hoffen, daß man sich im McCartney-Lager irgendwann doch noch entschließt, eine unkomprimierte Fassung an den Start zu bringen. Die Platte hätte es verdient, und womit Sie sich bis dahin die Zeit vertreiben können, habe ich ja eben erläutert. Alle vier Exemplare kommen übrigens im Klappcover und mit sämtlichen Beilagen. Das Gewicht pendelt zwischen 120 (Japan) und 145 Gramm (England), scheint aber hier praktisch keine Rolle zu spielen.

 

Musik: 7,5

Klang: 6,5 (USA, 1975)

Klang: 7,5 (England, 1975)

Klang: 6,5 (Japan, 1975)

Klang: 7,5 (Deutschland, 1975)

 

Ronald Born, April 2014